Charlotte Wessels – Tales From Six Feet Under

„Tales From Six Feet Under“ ist ein bemerkenswertes Solo-Album, das in sich stimmig, kurzweilig, erwachsen und ausgesprochen kreativ ist.

4.5
Florian Dünser

FLORIAN DÜNSER

14. Sep 2021

Review
Charlotte Wessels
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Der Schock saß tief, als Charlotte Wessels Anfang des Jahres – zusammen mit drei weiteren Band-Mitgliedern – den Ausstieg von Delain verkündete. Die erfolgreiche Symphonic Metal Band wurde über Nacht zum Solo-Projekt von Keyboarder Martijn Westerholt. Dass die begnadete Sängerin Charlotte der Musik nicht den Rücken kehren wird, machte sie bereits mit ihrem Abschiedsstatement deutlich. Gut also, dass die Niederländerin ein eigenes Studio im Keller ihres Zuhauses bespielt – und ihre treuen Patreon-Fans schon zuvor mit eigenen Songs versorgt hatte. Dieses eigene Studio, sehr passend „Six Feet Under“ genannt, steht nun auch namensgebend für ihr erstes Solo-Album „Tales from Six Feet Under“.

Das Besondere an diesem Album, das haptisch nur auf Vinyl erscheint: Alle Songs wurden im vergangenen Jahr und somit in inmitten der Covid-Pandemie nicht nur von Charlotte selbst geschrieben, sondern auch instrumental vollständig von ihr eingespielt bzw. programmiert. Einzige Ausnahme: Der Song „Lizzie“.

Zwischen Indie-Pop und Synthie-Rock

Wer Musik im Stil von Delain erwartet, wird auf „Tales From Six Feet Under“ gnadenlos enttäuscht. Auch wenn es mit „FSU (2020)“ durchaus auch eine härtere Nummer auf das Album geschafft hat: Charlotte bewegt sich stilistisch auf ihrem Solo-Debut irgendwo zwischen melancholischem Indie-Pop und Synthie-Rock – jedenfalls aber weit weg vom Symphonic Metal ihrer Ursprungsband. Und damit erinnert sie zwangsläufig an eine andere große Musikerin und Landsfrau: Anneke van Giersbergen. Die ehemalige The-Gathering-Frontfrau hat in ihrer musikalischen Karriere vieles ausprobiert. Und ihr aktuelles Solo-Album, „The Darkest Skies Are the Brightest“, ist ebenso weit weg von Metal, wie Michael Wendler von einer Grammy-Nominierung. Warum es trotzdem eines der besten Alben 2021 ist? Es ist so authentisch, wie Musik nur sein kann. Der private Schmerz, den Anneke beim Verfassen des Albums begleitet hatte, ist in jeder einzelnen Nummer spürbar.

Ein Umstand, den auch Charlotte mit „Tales From Six Feet Under“ hervorragend umzusetzen weiß. Die Niederländerin verleiht ihrem Album eine absolut einzigartige Note – und nimmt damit bewusst in Kauf, dass sie sich meilenweit von der musikalischen Komfortzone der (ehemaligen) Delain-Fanbase wegbewegt. Das ist verdammt mutig. Denn wie einfach wäre es für Charlotte gewesen, ein paar Musiker*innen um sich zu versammeln und einen Delain-Abklatsch zu gründen. Der Erfolg wäre ihr sicher gewesen. Stattdessen hat sie sich bewusst für den steinigeren Weg entschieden. Und diesem Mut gebührt Respekt!

Ballade statt Melodic Death Metal

Und wie klingt dieser mutige Schritt nun? Kurzum: Verdammt gut. Mit „Superhuman“ und „Victor“ hat Charlotte das Album in den vergangenen Wochen sehr stimmig angeteasert. Nichts für die Nacken-, dafür umso mehr für die Hüftmuskulatur. Mit „Afkicken“ wagt sich Charlotte auch an einen Track in ihrer Muttersprache. Eine vorwärts gerichtete Nummer, von der wir gerne mehr haben! Auf „Lizzie“ holt sich Charlotte dann Unterstützung von einer weiteren Ausnahmekünstlerin: Alissa White-Gluz von Arch Enemy. Ein Duett, bei dem sich auch die kanadische Melodic-Death-Metal-Queen von einer vollständig anderen Seite zeigt – und Lust auf mehr macht. Die facettenreichen clean vocals von Alissa harmonieren wunderbar mit der sanften Stimme von Charlotte. Eine Überraschung und zugleich absolutes Highlight auf „Tales From Six Feet Under“: Die Cover-Version des 80s-Hits “Cry Little Sister”, bekannt aus dem Film “The Lost Boys“.

Charlotte zeigt auf ihrem Solo-Debut, wie kreativ und musikalisch vielseitig sie ist. Eigenschaften, die sie bei Delain in ihrer Rolle als Sängerin nur bedingt zeigen konnte – und nun offenbar umso mehr Spaß daran gefunden hat. „Tales From Six Feet Under“ ist ein bemerkenswertes Solo-Album, das in sich stimmig, kurzweilig, erwachsen und ausgesprochen kreativ ist: Monotone Verwechslungsgefahr zwischen den Songs besteht nicht im Ansatz. Also: Metal-Scheuklappen ab und „Tales From Six Feet Under“ rein!

Tracklist

Side A
1. Superhuman
2. Afkicken
3. Masterpiece
4. Victor
5. New Mythology
6. Source Of The Flame

Side B
7. Cry Little Sister
8. Lizzie – A Duet with Alissa White-Gluz
9. FSU (2020)
10. Soft Revolution

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