„The Aftermath" – die Sollbruchstelle von Within Temptation

Die einen werden es lieben – die anderen verteufeln: Within Temptation zelebrieren mit ihrem Virtual-Reality-Gig ihre musikalische Neupositionierung.

Florian Dünser

FLORIAN DÜNSER

16. Juli 2021

News
Within Temptation
Sharon den Adel
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Der Streaming-Gig "The Aftermath" von Within Temptation bildet den – zumindest vorläufigen – Abschluss einer Reihe virtueller Konzerte populärer Metal-Bands, die Covid-bedingt in die heimischen Wohnzimmer ausweichen mussten. Darunter etwa "An Evening with Nightwish in a virtual World" von Nightwish, "Origins" von Beyond the Black oder "Omega Alive" von Epica. Auch Sharon den Adel & Band mussten ihre Co-Headliner-Tour mit Evanescence und Amy Lee bereits zwei Mal auf nunmehr Frühjahr 2022 verschieben. Um die Fans trotz Bühnenabstinenz bei Laune zu halten, wurde mit "The Aftermath" eine post-apokalyptische, virtuelle Welt entworfen, die Within Temptation dank Green Screen kurzerhand zur Bühne umfunktioniert haben. Ein Konzept, das in ähnlicher Form auch Nightwish umgesetzt hat, was Fans wie Kritiker vielerorts nicht überzeugen konnte.

Und die Niederländer? Die ernüchternde Antwort ist: Nur teilweise. Within Temptation liefern, ähnlich wie die Finnen, starke Bilder – schaffen es aber nicht, eine Stimmung zu kreieren, die auch nur im Ansatz an ein Live-Erlebnis erinnert. Das muss man bei Ankündigung eines Virtual-Reality-Gigs freilich auch nicht erwarten. Nach zwei Jahren Bühnenabstinenz ist es aber mitunter genau das, was man sich als Fan wünschen würde.

Keine Songs aus den ersten Alben

Die knapp einstündige Show ist in mehrere Episoden unterteilt, die je von einer futuristischen Erzählerin im Roboter-Alien-Look eingeleitet werden. Passend zur post-apokalyptischen Umgebung, wird die Geschichte einer Welt erzählt, in der der Mensch seine Lebensgrundlage zerstört hat – und sich selbst zum Feind wurde. Den Soundtrack zu dieser durchaus düsteren Umgebung liefern nun Within Temptation – mit "Forsaken" als Opener. Es soll der älteste Song von Within Temptation an diesem Abend bleiben. Auf die Hits der ersten beiden Alben Enter oder Mother Earth wartete man vergebens.

Das Spektakel wird vollständig in dieser virtuellen Welt abgehalten – wenn auch in unterschiedlichen Settings. Heißt: Within Temptation und Sharon performen ausschließlich vor dem Green Screen. Und auch wenn die Technik beeindruckend ist: Das sieht man. Die unscharfe Maskierung der Band vor der Kulisse stört den Gesamteindruck. Nach "Our Solemn Hour" bekommt Sharon auf dem zerstörten Dach des Hochhauses starke Unterstützung: Tarja ist die erste Gastmusikerin an diesem Abend – und droht, bei "Paradise (What about us?)" gegenüber Sharon fast ein wenig unterzugehen. Da hat man das Scheinwerferlicht in der Nachbearbeitung mitunter etwas zu stark auf Sharon gelenkt.

Es folgt Part II – und eine scharfe Kritik an Religionen. So zumindest könnte man die Einleitung, ohne große Gedankenhürden bedienen zu müssen, interpretieren. "Die Götter, die wir erschaffen hatten, verwandelten sich in Dämonen. Sie brachten uns keine Freiheit, sondern Ketten, um die Schwachen zu dominieren." Jetzt muss und darf man nicht zu viel in das Storytelling eines Virtual-Reality-Gig interpretieren: (Versteckte) Gesellschaftskritik wie bei "The Aftermath" fand man bei Within Temptation bisher nicht. Sharon erscheint dann auch der Szene angepasst als (gefallener) Engel in einer Unterwelt, die stark an die griechische Mythologie erinnert. Das schönste virtuelle Bühnen-Setting von "The Aftermath".

Das Mischpult hat nachgeholfen

Die musikalisch gute Performance zieht sich dann wie ein roter Faden durch die durchgängig jungen Hits des Abends – es folgen "The Purge" und "Entertain You". Freilich wurde aber auch hier, wie bei Nightwish oder Epica, keine unbearbeitete Live-Fassung gestreamt. Das Mischpult hat im Nachgang nachgeholfen. Das trübt den Live-Charater des Events – ist im Rahmen eines derartigen Settings aber nicht nur nachvollziehbar, sondern vollkommen legitim.

Nach "_Raise Your Banne_r" folgen (das auch sieben Jahre nach Veröffentlichung irritierende) "And We Run" sowie der neue Song "Shed My Skin", bei der die Band nicht nur im Rahmen der Single, sondern auch bei "The Aftermath" von Annisokay unterstützt wird.

Das letzte Setting entführt die Besucher*innen ins All, wo auf einer Plattform "The Reckoning", "Supernova" und – passenderweise – "Stairways to the Skies" (der beste Song des Abends) performt werden. Vor dem Finale richtet Sharon ein paar Dankesworte an die Fans in den Wohnzimmern. Eine schöne Geste, die, in einem so durchgetakteten Spektakel, das mehr an virtuelle Filminszenierung denn an ein Konzert erinnert, nicht selbstverständlich ist.

"The Aftermath" wird polarisieren

"The Aftermath" liegt zweifelsohne ein stimmiges inhaltliches Konzept zugrunde – und Within Temptation haben in ihrer virtuellen Welt, etwa im Vergleich zu Nightwish, einen großen Startvorteil: Sie wirken authentisch, nicht deplatziert. Die Stimmung passt zur musikalischen Weiterentwicklung der Band rund um die charismatische Frontfrau Sharon.

Und genau hier liegt das Problem für die ältere Within-Temptation-Garde, die rund um die Jahrtausendwende Enter, Mother Earth und – zumindest ansatzweise – The Silent Force schätzen und lieben gelernt haben. Für sie ist das Spektakel zu geschliffen, zu weit entfernt von den Wurzeln der Band – schlicht zu künstlich. "The Aftermath" hat, im übrigen genauso wenig wie die Alben Resist oder Hydra, nichts mehr mit dem Symphonic- und Gothic-Metal-Rohdiamant vergangener Tage zu tun. Es ist vielmehr ein beeindruckendes und top-produziertes Schauspiel einer modernen Alternative-Metal-Band mit elektronischen Einflüssen. Ein Schauspiel, das Raum für Shed my Skin, The Purge und Entertain You schafft – aber keinen Platz mehr für Klassiker wie Ice Queen, Mother Earth oder The Promise hat. Das muss man musikalisch nicht bewerten, kann man mögen oder nicht – es wird aber jedenfalls nicht allen "alten" Fan gefallen.

Und entlang jener Linie wird sich auch die Wahrnehmung des Virtual-Reality-Gigs "The Aftermath" bewegen. Die einen werden es lieben – für die anderen ist es ein weiterer Sargnagel auf dem Deckel der Band-Historie: Eine musikalisch-historische Sollbruchstelle.

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