Within Temptation – Bleed Out
„Bleed Out“ ist nicht der Soundtrack für den morgendlichen Sonnengruß am Waikiki-Strand, sondern eine düster-melancholische Anklage an die politischen Führer dieser Welt. Within Temptation nutzen ihre Musik und somit ihre Reichweite als Vehikel, um die Schieflage dieser einen einzigen Welt, die wir haben, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln etwas zu korrigieren. Alleine dafür gebührt ihnen Applaus.
FLORIAN DÜNSER
18. Oct 2023
Ich erinnere mich gut, als ich vor 23 Jahren mit dem zweiten Studio-Album „Mother Earth“ das erste Mal mit Within Temptation in Kontakt gekommen bin. Die einzigartige Stimme von Sharon den Adel hat mich, zusammen mit dem düster-melancholische Symphonic-Metal der Niederländer, sofort in den Bann gezogen. Ice Queen, Mother Earth und The Promise wurden zu Hymnen meiner Jugend, meine Metal-Leidenschaft nicht zuletzt durch dieses grandiose Album einzementiert. Der Beginn einer musikalischen Liebe? Mitnichten. Ich brauchte beinahe weitere 20 Jahren, um die musikalische Enttäuschung zu überwinden, die die nachfolgenden Alben bei mir ausgelöst hatten.
„The Silent Force“ und „The Heart of Everything“ fühlten sich für mich wie ein Verrat an „Enter“ und allen voran „Mother Earth“ an. Ein Verrat an „uns“ Fans. Es dauerte 20 Jahre um zu verstehen, dass meine musikalische Wahrnehmung mit jugendlichen 18 Jahren recht schnell in „gut“ und „schlecht“ zu kategorisieren – nicht aber musikalische Weiterentwicklung zu schätzen wusste. Tatsächlich haben Within Temptation geschafft, wovon andere Bands nur neidvoll träumen können: sie haben sich mehrfach neu erfunden. Nicht etwa, weil es Fans oder der Musikmarkt von ihnen verlangt hatten. Sondern vielmehr deshalb, weil man neue Wege beschreiten – und musikalische Experimente wagen wollte. Experimente, die nicht von allen „alten“ Fans, darunter mir, akzeptiert – aber doch immerhin von jeder Menge neuer goutiert wurden.
Within Temptation bekennen Farbe
„Bleed Out“ ist logisches Ergebnis dieser konsequenten Band-Weiterentwicklung. Within Temptation spiegeln auf diesem Album den Zustand einer ins Wanken geratenen Welt. Wenig überraschend also, dass „Bleed Out“ nicht der Soundtrack für den morgendlichen Sonnengruß am Waikiki-Strand ist, sondern eine düster-melancholische Anklage an die politischen Führer dieser Welt. Sharon & Band nehmen sich kein Blatt vor den Mund, beziehen klar Stellung und zeigen Rückgrat – und werden damit nicht nur gefallen. Musik und Politik – eine gute Idee? Während viele Künstler*innen ihre Köpfe hinter dem politisch-säkularisierten Dogma der radiotauglichen Mainstream-Musik in Sicherheit wiegen, bekennen Within Temptation klar Farbe. Und nutzen damit ihre Musik und somit ihre Reichweite als Vehikel, um die Schieflage dieser einen einzigen Welt, die wir haben, zumindest mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln etwas zu korrigieren. Alleine dafür gebührt ihnen Applaus.
Keine Liebe zur Schublade
Musikalisch ist „Bleed Out“ hör- und spürbar ein Werk von Within Temptation. Die Niederländer beschreiten dieses mal, im Vergleich zu „Resist“, keine gänzlich neuen Wege – überraschen aber auch auf diesem Album mit neuen Ansätzen und Elementen. Allen voran „Ritual“ und „Cyanide Love“ stechen hier als spannende Weiterentwicklung hervor. Die Band hat sich in Schubladen noch nie lange wohlgefühlt. Und die beiden Nummern schreien die Fans förmlich an, stets vorbereitet zu sein, dass ein Within-Temptation-Album ein Stück weit immer ein Überraschungsei bleiben wird. Auch wenn die Überraschungen auf „Bleed Out“ vergleichsweise rar gesät sind. Was weniger an der Band selbst liegt, sondern mit der einzigartigen Entstehungsgeschichte des Albums zusammenhängt. So wurden in den vergangenen zwei Jahren bereits neun der insgesamt zwölf Tracks veröffentlicht.
Hervorzuheben: auch mit 49 Jahren ist Sharon’s einzigartige Stimme über jeden Verdacht erhaben. Ihr beeindruckendes gesangliches Spektrum wird auch auf diesem Album bewusst ins Scheinwerferlicht gerückt. Und neben ihren stimmlichen Qualitäten verleiht allen voran ihr sympathisches und zugleich bodenständiges Auftreten Within Temptation so viel Herz und Seele.
Songwriting mit Konfliktpotenzial
Haben Within Temptation mit „Bleed Out“ ihren Stil gefunden? Hoffentlich nicht. Und das ist wahrscheinlich auch der einzigartigen Songwriting-Konstellation geschuldet. Die beiden Band-Gründer*innen, Sharon und ihr Lebensgefährte Robert Westerholt, zeichnen sich auch 26 Jahre später federführend dafür verantwortlich. Und pflegen einen, zumindest für Außenstehende, etwas eigenwilligen Weg. Demnach arbeiten die beiden nie gemeinsam, sondern immer nur getrennt voneinander – oder jeweils im Zusammenspiel mit einem Produzenten. Oder, wie man alternativ sagen könnte: einem Mediator. Nicht selten sei der Haussegen schief gehangen, wie die zwei Niederländer offen berichten. Auch deshalb werde die Studiozeit des jeweils anderen nicht mehr gestört.
„Bleed Out“ ist ein dunkles, düsteres und überraschend hartes Within-Temptation-Album, das den vor 20 Jahren stehengebliebenen Fans nicht unbedingt gefallen, aber tausende „neue“ begeistern wird. Darunter mich, einen „alten“ bekehrten Fan. Alte Liebe rostet bekanntlich nicht. Sie braucht nur manchmal einen zweiten Anlauf.
Anspieltipps:
Bleed Out
Wireless
Ritual
The Purge
Shed My Skin
Release: 20. Oktober 2023
Tracklist
1. We Go To War
2. Bleed Out
3. Wireless
4. Worth Dying For
5. Ritual
6. Cyanide Love
7. The Purge
8. Don’t Pray For Me
9. Shed My Skin (feat. Annisokay)
10. Unbroken
11. Entertain You
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