„Singen war für mich keine persönliche Entscheidung, sondern eine zwingende Notwendigkeit"

Nervosa-Frontfrau Prika Amaral erzählt von ihrer neuen Rolle in der Thrash Metal-Gruppe, dem frischen Album „Jailbreak“, der Erfüllung ihres lang gehegten Traums sowie ihren Prioritäten bei der Auswahl neuer Bandmitglieder.

Amanda Dizdarevic

AMANDA DIZDAREVIC

29. Sept. 2023

Interview
Prika Amaral
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Prika, euer neues Album bringt zwei wesentliche Neuerungen mit sich. Eine davon betrifft deine Rolle: Du bist nicht länger ausschließlich die Gitarristin, sondern übernimmst auch den Gesang. 

Prika: Richtig! Singen ist für mich keine gänzlich neue Erfahrung, aber zweifellos eine bedeutende Veränderung. Früher habe ich mich hauptsächlich auf Backing Vocals und tiefere Tonlagen konzentriert, wodurch ich im Hintergrund agierte. Als Frontfrau einer Thrash-Metal-Band kann ich jedoch nicht permanent in diesen tiefen Tonlagen singen. Aus diesem Grund musste ich mich an mittlere und hohe Töne herantasten und verschiedene stimmliche Techniken erlernen, und das in sehr begrenzter Zeit.

Wie hast du diese Herausforderung in so kurzer Zeit gemeistert?

Prika: Ich habe im Studio drauf los improvisiert und bei jeder Aufnahme unterschiedliche Methoden angewandt. Um ehrlich zu sein, konnte ich mich nicht oft daran erinnern, was ich am Tag davor gemacht habe, da ich ständig etwas Neues ausprobiert habe. Es war also ein sehr experimenteller Prozess, der gleichzeitig unglaublich viel Spaß gemacht hat.

Auf „Jailbreak“ klingst du keineswegs wie eine Anfängerin. Dein Gesang wirkt sehr selbstsicher.

Prika: Danke! Während den Aufnahmen fühlte ich mich nicht besonders selbstbewusst. Das Selbstbewusstsein kam erst, als ich auf der Bühne stand. Irgendwann erreichte ich einen Punkt, an dem ich so nervös war, dass ich in den Fuck-it-Modus umschalten musste. Also öffnete ich meinen Mund und legte los, ohne genaue Vorstellungen und Absichten bezüglich meines Gesangstils. Nachdem ich dann während unserer Tour das Singen und Gitarrespielen zum ersten Mal kombiniert hatte, wurde ich viel selbstsicherer und begann, mich dabei richtig wohlzufühlen. Es war seltsam. Zuerst hegte ich Zweifel, ob ich überhaupt dazu fähig wäre, und nun fühlt es sich an, als würde ich das schon seit Jahren machen.

Wie hast du dich anfangs dem Singen genähert? War es durch Gesangsunterricht oder eigenständiges Üben?

Prika: Beides. Das Wichtigste habe ich von einer Freundin gelernt, die mir Unterricht gegeben hat. Mayara (Anm: Mayara Puertas, Sängerin der brasilianischen Band Torture Squad) half mir, verschiedene Stimmregister zu beherrschen, mich ordentlich aufzuwärmen und meinen Lebensstil anzupassen, um meine Stimme zu schonen. Sie lehrte mich zudem, meinen eigenen Stil zu schätzen und einfach das zu tun, was ich bereits konnte, nur besser. Ihre Ratschläge waren äußerst hilfreich. Selbstverständlich habe ich dann allein geübt. Ich erinnere mich daran, wie ich mir zu Hause ein kleines Studio eingerichtet habe: Ich stellte ein Mikrofon auf, dämmte die Wände mit Decken und verbrachte den ganzen Tag damit, in diesem Raum herumzuschreien – ohne jegliche Anleitung. Mein Hauptziel war es, die Setlist und die alten Nervosa-Songs zu üben und herauszufinden, ob ich das wirklich kann und ob meine Stimme das aushält.

Die Tatsache, dass du jetzt die Vokalistin bist, bedeutet auch, dass du nun die Band anführst.

Prika: Stimmt. Ich denke, das war klar, da ich das einzige verbliebene Gründungsmitglied von Nervosa bin und die meiste Erfahrung mitbringe. Während Diva (Anm: Diva Satanica) unsere Sängerin war (Anm: von 2020 bis 2023), habe ich mich bewusst zurückgehalten und vermieden, Interviews zu geben oder mich mehr als sie zu äußern, als Zeichen meines Respekts. Nur wenn die Fragen direkt an mich gerichtet waren, habe ich natürlich geantwortet. Ich wollte Diva so viel Raum wie möglich lassen und sie in den Vordergrund stellen, da sie die Frontfrau und Sängerin war, nicht ich. Als es dann zu dem erneuten Besetzungswechsel kam und ich ihre Position übernahm, fühlten sich alle – insbesondere die Nervosa-Fans – wohler, da sie wussten, dass ein vertrautes Gesicht den Gesang übernimmt.

Hat sich deine Herangehensweise an das Songwriting, seitdem du singst, verändert?

Prika: Nicht unbedingt, denn ich habe bereits seit den Anfängen von Nervosa Texte geschrieben und einige Gesangslinien komponiert. Früher habe ich das jedoch nur gemacht, wenn mich die Inspiration überkam. Mir war es wichtig, der Vokalistin immer genug Freiraum zu geben, sich kreativ einzubringen. Demzufolge habe ich nur gelegentlich Vorschläge gemacht – das war alles. Von nun an muss ich alles selbst übernehmen und an alles denken. Zu Beginn war das eine enorme Herausforderung, da es so viel auf einmal war. Dennoch genieße ich es, vor allem, weil ich jahrelang dasselbe gemacht habe.

Hättest du jemals erwartet, einmal Sängerin zu werden?

Prika: Niemals! Ich habe die Gitarre geliebt – und tue es immer noch. In der Vergangenheit hatte ich schon einmal die Gelegenheit, den Gesang zu übernehmen, allerdings habe ich mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht selbst in dieser Position gesehen und mich demnach dagegen entschieden. Jetzt musste ich es tun. Das Singen war für mich keine persönliche Entscheidung, sondern eine zwingende Notwendigkeit. Mir fiel es aber so schwer, an mich selbst zu glauben.

Warum?

Prika: Viele Leute haben mir eingeredet, dass ich nicht die richtige Technik für das Singen hätte und nur meiner Stimme und Kehle damit schaden würde.

Hast du diesen Aussagen tatsächlich geglaubt?

Prika: Leider ja. Als ich dann mit dem Singen begann, stellte ich schnell fest, dass all diese Zweifel nicht der Wahrheit entsprachen. Das Blatt hat sich jetzt aber gewendet: Mittlerweile höre ich so oft, dass ich schon damals die Sängerin hätte sein sollen. Ich habe mich dann mehrmals gefragt, ob ich die damalige Entscheidung bereuen sollte. (lacht) Vielleicht tue ich das ein bisschen, doch ich glaube fest daran, dass alles zu seiner Zeit aus einem bestimmten Grund passiert.

Es haben sich nicht nur stimmliche, sondern gleichzeitig instrumentale Veränderungen bei euch ergeben: Statt einer Gitarre hört man nun zwei.

Prika: Korrekt! Das hat uns so viele neue Türen geöffnet. In allen Bands, in denen ich zuvor gespielt habe, gab es immer zwei Gitarren. Das bedeutete, dass ich beim Komponieren immer an zwei denken musste. Mit Helena (Anm: Helena Kotina) und mir sind es jetzt wieder zwei Gitarristinnen. Helena ist eine äußerst talentierte Musikerin, die alles spielen kann. Wir konnten daher all unsere Ideen in die Tat umsetzen, was ein Gefühl von Freiheit in uns weckte.

Für „Jailbreak“ habt ihr zwei besondere Gäste eingeladen, darunter Slayer- und Exodus-Legende Gary Holt. Wie kam diese Kollaboration zustande?

Prika: Wir haben eine Liste von Musikern, die wir gerne auf unseren Platten hätten, und Gary war einer der Top-Kandidaten. Ich schickte ihm eine Nachricht und fragte an, ob er bei einem unserer Songs mitwirken möchte. Ohne zu zögern willigte er ein, obwohl sein Terminkalender bereits voll ausgelastet war. Die Zusammenarbeit mit Gary hat einen lang ersehnten Traum wahr werden lassen.

Wie sieht es mit eurem zweiten Gast, Lena Scissorhands (Anm: Sängerin von Infected Rain und Death Dealer Union), aus?

Prika: Wir haben Lena ausgewählt, weil sie einen großartigen modernen Gesangsstil hat. Ihre Beteiligung ist ganz besonders für uns, weil sie die allererste Frau ist, die jemals auf einem Nervosa-Album gastiert hat. In der Vergangenheit hatten wir einige Gastmusiker auf unseren Scheiben, aber sie waren alle männlich. Da das so nicht mehr weitergehen durfte, kontaktierten wir Lena. Auch sie sagte sofort zu. Das Stück mit ihr ist fantastisch geworden; sie hat eine Vielzahl neuer Nuancen eingebracht. Unsere Stimmen sind zwar sehr unterschiedlich, harmonieren dennoch gut miteinander.

Warum habt ihr gerade „Superstition Failed“ und „When The Truth Is A Lie“ für Lena und Gary ausgewählt?

Prika: Wir haben „Superstition Failed“ für Lena ausgesucht, weil dieser Titel sehr viel Groove hat und sowohl Old School- als auch moderne Elemente enthält. Gary hört man auf „When The Truth Is A Lie“, da es sich um einen Old School-Song handelt, der stark von Slayer inspiriert wurde. Außerdem beinhaltet er eine längere instrumentale Passage, in der wir ein ausgedehntes Solo perfekt platzieren konnten.

Kannst du mir verraten, was nicht so gut gelaufen ist oder was dir die größten Sorgen bereitet hat?

Prika: Ja, und zwar alles rechtzeitig fertigzustellen. Wir hatten viele Last-Minute-Probleme, darunter auch den Besetzungswechsel. Ich war extrem unsicher, ob ich gut genug bin. Aber wie bereits erwähnt, drückte ich im Aufnahmestudio auf den Fuck it-Knopf und konzentrierte mich nur darauf, mein Bestes zu geben. Innerhalb der Band lief hingegen alles reibungslos; wir hatten jede Menge Spaß.

Schön zu hören, dass mit deinen neuen Bandkolleginnen alles so gut geklappt hat. Wie war es für dich eigentlich, diese zu finden?

Prika: Es war echt schwierig, neue Mitglieder zu finden, da es unzählige talentierte Frauen gibt. Viele glaubten, es sei für mich unmöglich, mit einer starken Besetzung zurückzukehren. Doch ich habe es geschafft. Mit Helena, Hel (Anm: Hel Pyre, Bass) und Michaela (Anm: Michaela Naydenova, Schlagzeug) habe ich etwas ganz Besonderes gefunden.

Worauf hast du bei der Auswahl der neuen Nervosa-Mitglieder am meisten geachtet?

Prika: Bei meiner Entscheidungsfindung spielten insbesondere die geografische Lage, die Logistik und die persönlichen Ziele der einzelnen Frauen eine bedeutende Rolle. Die Fluktuation in der Besetzung in der Vergangenheit hat mich gelehrt, wie man eine gute Gruppe zusammenstellt. Obwohl wir viele Möglichkeiten offen haben, gibt es einige Grenzen: Viele Frauen sind noch sehr jung, studieren, gründen eigene Unternehmen oder bekommen Babys. Einige sind anfangs überzeugt davon, dass sie unbedingt Teil einer Band sein wollen. Jedoch bemerken sie recht bald, wie anspruchsvoll das tatsächlich ist. Ihre Meinung ändert sich dann schnell, und Umschwünge sind in der Vergangenheit nicht selten vorgekommen.  

Zum Glück war deine Suche doch noch erfolgreich. Mit Hel, Helena und Michaela hast du herausragende Ergänzungen für Nervosa entdeckt.

Prika: Ja, das denke ich auch. Das Wichtigste ist, dass jeder glücklich ist und von Menschen umgeben ist, die zufrieden sind mit dem, was sie tun. Wenn die Zufriedenheit bei jemandem schwindet, ist es an der Zeit, einen neuen Weg einzuschlagen. Eine derartige Entscheidung muss jeder Mensch akzeptieren und respektieren. Alle Mitglieder von Nervosa, auch die ehemaligen, hatten schon immer großen Respekt füreinander.

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