„Dieses Album ist kein Versuch, die Metal-Szene zufrieden zu stellen"

Ein eigenes Album, komplett unabhängig und ohne stilistische Leitplanken: Mit „Cherry Red Apocalypse“ geht Melissa Bonny (Ad Infinitum, The Dark Side Of The Moon) erstmals konsequent ihren eigenen Weg. Im Gespräch mit Dark Divas erzählt sie von Verantwortung, kreativer Freiheit, persönlichen Geschichten – und davon, warum dieses Album genau so klingen musste.

Amanda Dizdarevic

AMANDA DIZDAREVIC

23. Dez. 2025

Interview
Melissa Bonny
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Melissa, in wenigen Wochen erscheint mit „Cherry Red Apocalypse“ dein erstes Soloalbum. Mit welchen Gefühlen blickst du aktuell auf diesen Moment – überwiegt die Vorfreude oder doch eher die Nervosität? 

Melissa: Definitiv die Nervosität! Ich habe mich bewusst dafür entschieden, das Album unabhängig zu veröffentlichen und alles nach meinen eigenen Vorstellungen umzusetzen. Solo zu arbeiten ist dabei etwas völlig anderes, weil die Verantwortung viel stärker bei mir allein liegt. Ich musste selbst dafür sorgen, dass am Ende jedes Detail stimmt und alles zusammenkommt. Außerdem unterscheidet sich dieses Projekt deutlich von dem, was ich sonst mit meiner Band mache – und genau das macht die Situation so aufregend! 

Du gehst also bewusst ohne Label raus. Warum war dir dieser unabhängige Weg so wichtig?

Melissa: Einfach, um zu sehen, wie weit meine Fans und ich das gemeinsam pushen können. Gleichzeitig wollte ich die Freiheit haben, alles in meinem eigenen Tempo zu machen und am Ende die Ergebnisse meiner harten Arbeit auch unmittelbar selbst zu sehen.

Der Entschluss für ein eigenes Soloalbum entsteht ja nicht von heute auf morgen. Wann wurde der Gedanke für dich erstmals greifbar und konkret?

Melissa: Das ist eine gute Frage, denn schon 2020 wollte ich anfangen, eigene Musik zu schreiben. Ich habe auch angefangen, und dann waren wir viel beschäftigt, vor allem mit Ad Infinitum. Ich war außerdem mit Kamelot auf Tour, dazu kamen viele Kollaborationen und Projekte. Und so hat es einfach gedauert, bis ich mich wirklich hinsetzen und es umsetzen konnte.

Die ersten Songs, die es tatsächlich auf das Album geschafft haben, habe ich im Januar 2023 geschrieben. Danach habe ich über 2023 und 2024 hinweg immer wieder daran gearbeitet. Aber der Moment, in dem ich wirklich die Zeit hatte, mich hinzusetzen und die Platte richtig zusammenzubauen, war im November/Dezember 2024 und im Januar/Februar 2025. Es war also ein langer Prozess, doch die klare und bewusste Entscheidung, das Projekt konsequent umzusetzen, fiel schließlich Ende 2024.

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Gab es während dieses langen Prozesses einen Punkt, an dem dieser Plan plötzlich wackelig wurde – wo du dachtest, du musst komplett neu anfangen?

Melissa: Bei mir ist es so, dass die ersten Ideen nach einer längeren Schreibpause selten die besten sind. Am Anfang gibt es immer diesen Moment des Zweifelns, in dem man denkt, man könne es vielleicht gar nicht mehr. Aber ich mache weiter, bleibe dran – und irgendwann kommt der Punkt, an dem es sich wieder richtig anfühlt.

Das ist ein bisschen so, als würdest du sechs Monate lang nicht ins Fitnessstudio gehen und dann plötzlich wieder anfangen. Du kannst nicht sofort dort weitermachen, wo du aufgehört hast, sondern musst dich langsam wieder herantasten. Genauso ist es für mich beim Songwriting: Erst müssen die kreativen Muskeln wieder in Gang kommen – und sobald das passiert, stellt sich das Gefühl dafür nach und nach wieder ein.

Dabei eignet man sich auch ständig Neues an – etwa durch ein neu entdecktes Plugin oder eine Schreibweise, die sich plötzlich richtig anfühlt. Irgendwann erreicht man dann den Punkt, an dem sich der kreative Prozess wie ein Neustart anfühlt. Das kann im ersten Moment durchaus entmutigend sein, aber sobald man diese Phase hinter sich gelassen hat, fühlt es sich wieder gut und stimmig an.

Wenn du dein Songwriting für deine Bands mit dem für dein Soloalbum vergleichst – wo liegt für dich der größte Unterschied?

Melissa: Wenn ich mit Ad Infinitum schreibe, sind wir vier Songwriter. Da gibt es dieses ständige Ping-Pong: Ich schicke eine Idee an Nik (Anm.: Niklas Müller, Ad Infinitum-Schlagzeuger), er arbeitet daran weiter, dann gehen wir gemeinsam drüber. Oder Nik schickt etwas an Adrian (Anm.: Adrian Theßenvitz, Ad Infinitum-Gitarrist), oder wir sitzen alle zusammen in einem Raum und schreiben. Es sind vier kreative Köpfe, die sich gegenseitig antreiben und ergänzen.

Bei meinem Soloalbum war das ganz anders: Ich saß oft allein in meinem Zimmer und habe Songs von Grund auf aufgebaut – Drums programmiert, Vocals aufgenommen, Gitarre gespielt, alles selbst ausprobiert. Wenn ich etwas an meinen Produzenten Vikram (Anm.: Vikram Shankar – Silent Skies, Pain of Salvation) geschickt habe, musste das schon ein klares Gerüst haben. Die Richtung, die Stimmung und die Idee des Songs mussten sofort verständlich sein.

Dadurch habe ich mein Songwriting stark weiterentwickelt. Die Demos waren viel ausgearbeiteter und detaillierter als sonst, weil ich meine Vision komplett darin unterbringen musste. Es war mehr Arbeit, aber auch unglaublich lehrreich.

Welche Freiheit wolltest du dir dabei ganz bewusst nehmen – also was sollte auf diesem Album möglich sein, was in deinen Bands so nicht geht? 

Melissa: Ich glaube, es war tatsächlich das Schreiben. Auch wenn wir bei Ad Infinitum sehr stolz darauf sind, wie offen wir schreiben, bewegen wir uns am Ende trotzdem innerhalb eines klaren Rahmens: Wir schreiben ein Metal-Album. Das gilt genauso für The Dark Side Of The Moon – auch dort gibt es eine stilistische Grenze, die wir bewusst nicht überschreiten.

Bei „Cherry Red Apocalypse“ war das anders. Ein Song wie „Highs and Lows“ hätte auf einem Ad Infinitum-Album einfach keinen Platz. Genau das fand ich aber spannend. Ich wollte mir erlauben, in manchen Songs sehr organisch zu werden, moderne und elektronische Elemente fast komplett zurückzunehmen – und im nächsten Moment mit einem Track wie „Snake Bites“ genau das Gegenteil zu machen.

Mir war bewusst, dass diese Vielfalt für manche vielleicht ungewohnt wirkt, weil das Album sehr unterschiedliche Stimmungen und Klangwelten durchläuft. Deshalb habe ich viel Feedback eingeholt, Demos weitergegeben und gezielt gefragt: Ergibt das als Gesamtwerk Sinn? Passt das zusammen?

Am Ende hatte ich das Gefühl – und das wurde mir auch zurückgespiegelt –, dass es genau das tut. Das Album fühlt sich wie eine Reise an: Es führt an viele unterschiedliche Orte, bleibt dabei aber in sich geschlossen. Man hat nicht das Gefühl, eine zufällige Playlist mit verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern zu hören, sondern ein zusammenhängendes Werk.

Das Album schlägt stellenweise deutlich poppigere Töne an. Wer waren dabei deine wichtigsten Inspirationsquellen?

Melissa: Ich würde sagen, es waren Bands wie Paramore und Fall Out Boy, dazu ein bisschen Olivia Rodrigo – also eher aus dem Pop Rock- und Pop Punk-Bereich. Diese Musik vermittelt einfach dieses Gefühl von Freiheit. Wenn man zum Beispiel „Afterglow“ hört, merkt man, dass der Song stark von Fall Out Boy inspiriert ist. Da sehe ich mich schon direkt auf der Bühne, mit ganz viel Energie. Und wenn man „Mama, Let Me Go“ hört, hat das eher so einen Fleetwood Mac-Vibe. Natürlich ist auch ein bisschen Metal dabei – ich kann einfach nicht komplett ohne Metal.

Insgesamt würde ich also sagen, die größten Einflüsse waren Paramore, Fall Out Boy, Fleetwood Mac und tatsächlich auch ein wenig Miley Cyrus.

Diese Einflüsse erweitern dein Klangspektrum spürbar. Wie schätzt du die Reaktionen der Zuhörerinnen und Zuhörer auf diese poppigeren Facetten ein?

Melissa: Also erst mal: Wir haben mit Ad Infinitum ja ohnehin schon einen ganz guten Job darin gemacht, Menschen zu verärgern – vor allem mit dem Song „Surrender“. Das ist also nichts Neues (lacht). Bei „Cherry Red Apocalypse“ war mir aber von Anfang an bewusst, dass dieses Album nicht den Erwartungen entsprechen wird, die man vielleicht an mich hat. Genau darin lag aber auch die größte Freiheit: Ich konnte mich vollständig auf mein eigenes Gefühl verlassen und konsequent das umsetzen, was sich für mich richtig anfühlt. Menschen, die Musik offen begegnen und sie nicht strikt in Genregrenzen einteilen, werden sich darin wiederfinden.

Wer hingegen ein klassisches Metal-Album erwartet, wird mit dieser Platte vermutlich weniger anfangen können. Dieses Album ist kein Versuch, die Metal-Szene zufrieden zu stellen. Vielmehr ging es mir darum, ein Werk zu schaffen, hinter dem ich zu hundert Prozent stehe und das ich mit voller Überzeugung live auf die Bühne bringen möchte – für all jene, die sich mit dieser Musik und den Emotionen dahinter verbinden können.

Gerade Songs wie „Afterglow“ werden auf der Bühne einfach unglaublich viel Energie haben – das wird eine riesige Party, und darauf freue ich mich wahnsinnig. Lustigerweise habe ich sogar während dieses Gesprächs gerade die erste Show für dieses Projekt gebucht.  

 

Gratuliere! Und apropos Live-Umsetzung: Hast du bereits konkrete Bilder im Kopf, wie du deine Shows visuell gestalten möchtest – also in Bezug auf Bühnenbild, Outfits und die gesamte Atmosphäre auf der Bühne?

Melissa: Ja, auf jeden Fall. Mir ist wichtig, bewusst etwas anderes zu machen als mit Ad Infinitum – dieses Projekt soll klar für sich stehen. Meine Vision geht dabei eher weg vom sehr Modernen. Das sieht man auch am Albumcover mit dem Baum im Hintergrund, das diese Richtung gut widerspiegelt.

Ich stelle mir eine Verbindung aus dunklen, eher klassischen Metal-Elementen vor – also Schwarz, Tiefe, eine gewisse Schwere – kombiniert mit etwas sehr Natürlichem und Organischem. Äste, Strukturen aus der Natur, Blumen gehören für mich unbedingt dazu. Man könnte fast sagen: Hippie trifft Metal (lacht).

Gab es etwas, das du im Solo-Kontext neu gelernt hast und jetzt automatisch auch in deine Bandarbeit mitnimmst?

Melissa: Ja! Ich habe unglaublich viel Zeit darauf verwendet, die Vocals bis ins Detail auszuarbeiten – selbst die kleinen Stellen, die man auf den ersten Blick vielleicht für nebensächlich hält. Dabei ging es nicht nur um die Lead Vocals, sondern genauso um Harmonien, feine Nuancen und dezente Voice-Effekte. Solche Dinge entstehen oft nur, wenn man sich bewusst Zeit dafür nimmt und sie gezielt einplant.

Diese Herangehensweise habe ich inzwischen auch ins Songwriting von Ad Infinitum mitgenommen. Besonders gefallen hat mir, meine Stimme stärker als zusätzliches Instrument zu begreifen – nicht nur als Lead, sondern auch im Hintergrund, in Form von Vocal-Layern, Texturen oder kleinen Effekten. Das ist nicht zwingend notwendig, aber wenn es da ist, verleiht es den Songs eine zusätzliche Tiefe. Und ehrlich gesagt: Jetzt, wo ich das einmal so intensiv gemacht habe, kann ich mir kaum vorstellen, wieder darauf zu verzichten.

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Für „Cherry Red Apocalypse“ hast du dir auch stimmliche Verstärkung geholt – und mit Yu Umehara sogar ganz bewusst eine japanische Stimme eingebunden. Wann war dir klar, dass „Snake Bites“ genau diese Facette braucht?

Melissa: Als ich „Snake Bites“ geschrieben habe, ist etwas sehr Spontanes passiert: Ich habe auf Instagram gescrollt und bin über ein Zitat gestolpert, sinngemäß: „Das Gift der Schlange dringt nicht durch die Haut des Drachen.“ Der Satz hat mich sofort gepackt, also habe ich ihn in meinem Kopf leicht verändert.

Ich habe mein kleines Lyrics-Notizbuch genommen und „You can’t kill a dragon with a snake bite“ aufgeschrieben – und direkt gemerkt, wie gut das fließt. Also habe ich die Zeile spontan mit so einem leicht rapartigen Feeling auf meinem Handy aufgenommen. Zuerst dachte ich noch, ich kümmere mich später darum, weil ich eigentlich an einem anderen Song gearbeitet habe. Aber dann war klar: Nein, das muss ich jetzt machen, solange es frisch ist. Also habe ich mir zwei Tage Zeit genommen und mich komplett auf diesen Song konzentriert.

Während ich Samples programmiert und am Arrangement gearbeitet habe, hat sich immer stärker ein asiatischer Vibe entwickelt. Da kam mir die Idee, wie gut eine zweite Strophe auf Japanisch passen würde – gerade mit diesem Drachen- und Schlangen-Thema.

Ich habe Yu dann kontaktiert und ihr erklärt, worum es mir geht: dass ich unbedingt Japanisch im Song haben möchte, es selbst aber nicht schreiben kann, und ob sie sich vorstellen könnte, mitzusingen und mir beim Übersetzen zu helfen. Zum Glück hat sie sofort zugesagt.

Ich bin ihr unglaublich dankbar, weil sie einen großartigen Job gemacht hat. Sie hat mir mehrere Text- und Gesangsvarianten geschickt und sogar Demos aufgenommen, damit ich ein Gefühl für den Flow bekomme. Denn wenn man Japanisch liest, hat man ja oft keine Vorstellung davon, wie es klingt. Am Ende haben wir gemeinsam die Version ausgewählt, die sich am besten angefühlt hat, und dann hat sie es final aufgenommen. So ist dieses Feature entstanden.

Neben den klassischen Songs gibt es auf dem Album auch dieses besondere „Crescent Moon Interlude“ mit Adrienne Cowan von Seven Spires und Fabienne Erni von Eluveitie und Illumishade – weniger ein musikalischer Übergang, eher ein sehr persönlicher Dialog. Wie ist diese Idee entstanden?

Melissa: Mir war es wichtig, auf dem Album einen bewussten Moment des Innehaltens zu schaffen – eine Art Atemzug zwischen den Songs. Die Idee dazu kam tatsächlich durch ein Ariana Grande-Album. Dort gibt es einen Track, auf dem, wenn ich mich richtig erinnere, ihre Großmutter über Planeten spricht. Ich mochte diesen Gedanken sehr: kurz keine klassische Musik, aber trotzdem etwas Inhaltliches, etwas, das hängen bleibt.

Als ich das Interlude geschrieben habe, war mir von Anfang an klar, dass es sich eher wie ein Gespräch anfühlen soll. Deshalb habe ich Adrienne und Fabienne gefragt. Ich habe das Gefühl, dass wir drei uns an einem sehr ähnlichen Punkt unserer Karrieren befinden. Wir sind ungefähr gleich alt – Fabienne und ich sogar nur ein paar Tage auseinander – und auch wenn Adrienne ein paar Jahre jünger ist, gehören wir zur gleichen Generation von Metal-Sängerinnen. Wir machen ähnliche Erfahrungen, durchlaufen vergleichbare Phasen und bauen unsere Karrieren auf eine ähnliche Weise auf. Das hat sich für mich einfach stimmig angefühlt.

Inhaltlich habe ich das Interlude außerdem so angelegt, dass es direkt in den nächsten Song „Spellbound“ übergeht. Man hört bereits, wie die Musik einsetzt, erste Vocals tauchen auf – es ist ein sanftes Hinübergleiten in den nächsten Abschnitt des Albums. Insgesamt wollte ich etwas sehr Intimes und Persönliches schaffen.

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Welcher Song hat dir beim Schreiben oder Aufnehmen eigentlich die größten Herausforderungen bereitet?

Melissa: Ganz klar „Mama, Let Me Go“. Dieser Song war besonders anspruchsvoll, weil er ja einen starken Fleetwood Mac-Vibe hat – also eine Klangästhetik aus einer ganz anderen Zeit. Genau dieses Gefühl wollten wir einfangen, und das ist gar nicht so leicht.

Schon beim Schreiben war es schwierig, weil der Song extrem reduziert ist. Es gibt keine dichten Arrangements mit vielen Instrumenten, Samples oder Layern. Alles ist sehr „nackt“ und pur, und genau deshalb zählt jede einzelne Note, jeder Schlag. 

Während der Schlagzeugaufnahmen haben wir gemerkt, dass wir einen Schritt zurückgehen müssen. Wir haben den Song erst einmal liegen lassen und uns auf die anderen Tracks konzentriert. Jacob (Anm.: Jacob Hansen, Produzent) hatte dann die Idee, ein anderes Drumkit zu verwenden – ein originales Kit aus den 70ern, das er zufällig zu dieser Zeit im Studio hatte. Das hatte einen völlig anderen Sound.

Morten (Anm.: Morten Løwe Sørensen, Schlagzeuger von Amaranthe und The Dark Side of the Moon sowie Ehemann von Melissa) hat also zunächst die Drums für die restlichen Songs aufgenommen, und danach wurde das bisherige Kit wieder abgebaut und dieses besondere Sammlerstück aufgebaut. Anschließend haben wir verschiedene Versionen getestet, weil man bei diesem Song wirklich alles hört. Jeder Schlag muss bewusst gesetzt sein, und es gibt kaum Spielraum für nachträgliche Bearbeitung.

Auch strukturell war es herausfordernd: genau festzulegen, wo der Song beginnt, wo sich die Energie verändert und wo sie wieder zurückgenommen wird. Und schließlich waren auch die Vocals anspruchsvoll, weil man jedes Detail hört. Insgesamt war „Mama, Let Me Go“ definitiv die größte Herausforderung auf dem Album.

Und hinter dieser „Nacktheit“ steckt ja auch eine sehr konkrete Geschichte. Was hast du in „Mama, Let Me Go“ verarbeitet?

Melissa: Der Song ist meinen Eltern gewidmet und basiert auf einer sehr klaren, fast filmischen Erinnerung. Es geht um den Moment, in dem ich mein Zuhause verlassen habe – die Entscheidung, meinen Job zu kündigen, die Schweiz hinter mir zu lassen und ernsthaft zu versuchen, als Musikerin Fuß zu fassen. 

Die Schweiz ist ein sehr teures Land, und ich hatte das Gefühl, dass ich woanders bessere Chancen haben würde, zumindest für den Anfang. Heute lebe ich in Dänemark, aber mein erster Schritt führte mich damals nach Österreich. Ich habe also mein Auto gepackt, ein Freund hat mir eine Wohnung vermittelt, und ich habe diesen gut bezahlten, sicheren Job, über den meine Eltern eigentlich sehr froh waren, aufgegeben.

Sie haben mich immer unterstützt, auch wenn natürlich die Frage im Raum stand, ob das wirklich die richtige Entscheidung sei. Für mich war das aber sehr klar, weil ich in diesem Job in der Schweiz einfach unglücklich war. Das war nicht der Weg, den ich für mein Leben gesehen habe.

Der Song hält genau diesen Abschied fest: Alles ist gepackt, ich stehe am Auto, meine Eltern stehen an der Tür und winken mir nach. Es ist ein unglaublich emotionaler Moment. Ich weiß noch genau, wie sehr ich versucht habe, nicht zu weinen, weil Abschiednehmen schwer ist, besonders wenn man sein Zuhause verlässt und in ein anderes Land geht.

Wenn man so persönlich wird, ist das Feedback von außen oft noch einschüchternder. Welche Stimme im Kopf war am lautesten, kurz bevor alles fertig war?

Melissa: Solange ein Album nicht draußen ist und man keine echten Reaktionen sieht, bleibt immer diese Unsicherheit: Wird es ein Publikum finden? Werden die Leute es mögen? Und werden sie am Ende auch zu den Shows kommen?

Wenn man Teil einer Band ist – oder sogar mehrerer Bands – und dann plötzlich solo auftritt, kommt noch eine zusätzliche Ebene der Bewertung hinzu. Schnell entsteht dieses Gefühl von: „Sie ist die Sängerin von Band X, jetzt macht sie ihr eigenes Ding – mal sehen, was sie alleine wirklich kann“. Der Fokus liegt viel stärker darauf, ob man auch ohne das gewohnte Umfeld bestehen kann.

Eine meiner größten Ängste war deshalb, ob ich die Menschen davon überzeugen kann, dass ich genau das kann. Mir war es über die Jahre immer wichtig zu zeigen, dass ich mehr mache als „nur“ zu singen. Natürlich ist es vollkommen legitim, ausschließlich Sängerin zu sein – viele Menschen möchten genau das, und das ist absolut in Ordnung. Für mich persönlich war es jedoch wichtig, sichtbar zu machen, dass ich mich aktiv einbringe, dass ich Arbeit investiere und Teil des kreativen Prozesses bin. Gerade bei Sängerinnen habe ich oft das Gefühl, dass noch ein zusätzlicher Scheinwerfer darauf gerichtet ist: „Kann sie wirklich mehr als nur singen?“. Genau dieses Bild wollte ich immer hinterfragen – und dieses Soloprojekt ist für mich auch eine Chance, zu zeigen, was ich auf eigenen Beinen leisten kann.

Was hoffst du, löst das Album bei den Menschen aus, die sich darauf einlassen?

Melissa: Ich wünsche mir, dass die Menschen sich gestärkt und gesehen fühlen. Viele der Songs greifen Emotionen auf, mit denen sich, glaube ich, sehr viele identifizieren können. Ob das nun Gefühle sind wie in „I’m A Monster“ oder „I Don’t Like You“ – oder ganz allgemein dieses Erkennen beim Lesen der Lyrics, dieses „Okay, das habe ich auch schon erlebt“. Wenn jemand das Album hört und merkt, dass er oder sie mit diesen Gedanken und Gefühlen nicht allein ist, dann hat es genau das erreicht, was ich mir erhoffe. 

Das klingt nach einem Album, das nicht nur nach außen zeigt, wer du bist, sondern auch nach innen wirkt. Wenn „Cherry Red Apocalypse“ ein Spiegel wäre, was würdest du darin sehen?

Melissa: Ich glaube, es würde eine Version von mir zeigen, die ruhiger geworden ist und aus ihren Erfahrungen gelernt hat. Eine Version, die die Welt mehr so akzeptiert, wie sie ist. Viele der Songs spiegeln genau diese Lebenslektionen wider, die ich im Laufe der Zeit gesammelt habe. Sie helfen mir dabei, Situationen mit etwas mehr Abstand zu betrachten – gerade dann, wenn Dinge nicht so laufen, wie man es sich wünscht.

Du hast vorhin betont, wie sehr dieses Projekt von der Community getragen wird. Was möchtest du – genau mit diesem Hintergrund – den Menschen noch mitgeben, bevor das Album endgültig draußen ist?

Melissa: Mir ist wichtig zu betonen, dass es sich wirklich um einen unabhängigen Release handelt. Das bedeutet: Der Erfolg – oder auch der Misserfolg – dieses Albums hängt direkt davon ab, wie sehr die Menschen es lieben und unterstützen.

Und bisher ist genau das unglaublich gewesen. Wir haben eine Fanbase, die unfassbar engagiert ist und es wirklich ernst nimmt, die Musik weiterzutragen. Das ist alles andere als selbstverständlich.

Nicht, um damit anzugeben, sondern einfach als Zeichen dafür, wie stark dieser Support ist: Das Vinyl war innerhalb von zwei Wochen ausverkauft – eigentlich war das mein kompletter Bestand bis zum Release. Ich habe dann nachpressen lassen, einmal bunt und einmal klassisch schwarz, und das bunte Vinyl war erneut innerhalb weniger Tage weg. Diese Unterstützung bedeutet mir unglaublich viel, weil ich glaube, dass die Menschen sehen: Sie geht diesen Weg ohne Label, komplett auf eigene Faust – und genau deshalb helfen sie mit, die Musik nach draußen zu tragen.

Gerade in einer Zeit, in der man ständig gegen Algorithmen, große Firmen und Strukturen ankämpfen muss, zeigt das für mich etwas ganz Wichtiges: Fans haben immer noch die Macht, ein Album zu pushen, einen Artist sichtbar zu machen und Musik wirklich hörbar werden zu lassen. Dafür bin ich unendlich dankbar.

 

„Cherry Red Apocalypse" erscheint am 23. Januar 2026. Du kannst es hier vorbestellen.

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