„Wer nicht aufsteht und nichts sagt, wird auch nichts verändern!"

„Bleed Out“ ist das achte Studioalbum von Within Temptation. Inhaltlich reif wie nie zuvor und mit klarer politischer Position gehen sie damit an den Start. Dark Divas konnte vor dem Release mit Frontfrau Sharon den Adel über das neue Werk mit ungewöhnlicher Entstehungsgeschichte sprechen.

Ursula von Dark Divas

URSULA VON DARK DIVAS

20. Okt. 2023

Interview
Within Temptation
Sharon den Adel
Sharon den Adel, Within Temptation

Ist die Zeit vor einem Album-Release für dich eine besondere? 

Sharon den Adel: Ja, es ist ein Ende und ein Anfang. Für unsere Fans ist es der Anfang, sie können das Album jetzt endlich in voller Länge hören. Für uns stellt es das Finale des Aufnahme- und Bewerbungsprozess dar. Gerade bei diesem Album war ja alles anders als gewohnt und es hat sich über einen längeren Zeitraum gezogen. Das Album ist in merkwürdigen Zeiten entstanden – in Zeiten von Covid. Wir haben deshalb Stück für Stück die Singles veröffentlicht. Nicht erst, wie üblich, nach Album-Release. 

Du hast es bereits angesprochen: die Entstehungsgeschichte des Albums ist ungewöhnlich. 

Sharon: Ja, der erste Song, den wir aufgenommen haben, war „Entertain You", das war Anfang 2020. Und der letzte Song kam erst diesen Januar dazu. „Bleed Out" hat sich somit über drei Jahre entwickelt. Da ist in der Welt viel passiert. 

Du meintest in einem Gespräch, so zu arbeiten, hat dir gut gefallen. Werdet ihr das also beibehalten? 

Sharon: Ich glaube schon. So viele Singles wie jetzt würden wir im Vorfeld wahrscheinlich nicht mehr veröffentlichen. Aber der sofortige Release fühlt sich richtig gut an. Unsere Songs entstehen oft im Moment, beziehen sich auf aktuelle Geschehnisse und du kannst dies dann direkt mit den Fans teilen. Du kommst unmittelbar in den Austausch. Das fühlt sich gut an. 

Ihr habt ein Album zum ersten Mal selbst veröffentlicht, sprich: ohne ein Label im Hintergrund. Ein notwendiger, emanzipatorischer Schritt für mehr künstlerische Freiheit? 

Sharon: Ja. Die Rahmenbedingungen bei Labels sind anders. Es gibt klare Slots, wann ein Song raus muss und wenn das nächste Album kommen soll bzw. muss. Labels betreuen auch nicht nur ein Band, sondern müssen auf die Interessen vieler verschiedener achten. Dafür habe ich Verständnis, aber für uns war es wichtig, dass wir in unserem Rhythmus arbeiten können. So, wie wir es brauchen. So wie es jetzt ist, fühlt es sich richtig, frei und unabhängig an. 

Ist das ein Schritt zurück zum wahren, künstlerischen Sein – losgelöst von den Vorgaben der Labels? Viele Bands entscheiden sich aktuell für diesen Weg, für mich sieht das fast wie ein Trend, eine Gegenbewegung aus.

Sharon: Es könnte eine Art Bewegung sein. Über andere Bands kann ich wenig sagen, weil ich die konkreten Gründe für diese Entscheidung nicht kenne. Bei uns ist es so: Wir haben lange, lange Zeit mit Labels gearbeitet. Wir haben dort sehr viel gelernt. Das war extrem wichtig für uns. Wir konnten so viel Erfahrung sammeln. Wir brauchen aber jetzt etwas anderes. Für uns funktioniert dieses System nicht mehr. Ich würde aber keiner Band, die am Anfang ihrer Karriere steht, empfehlen, auf ein Label zu verzichten. Am Anfang kommt so viel auf dich zu, das kannst du, aus meiner Sicht, als junge Band gar nicht bewältigen. Da ist der Halt des Label sehr gut. Wir haben diesen Schritt auch erst nach 26 Jahren gewagt. (lacht) 

Das heißt: Ihr wollt nicht mehr zurück zu einem Label?

Sharon: Genau! 

Ich musste schmunzeln als ich gelesen habe, dass du und dein Partner zwar gemeinsam an den Tracks arbeitet, aber eben getrennt voneinander, damit ihr nicht zu streiten beginnt. Wie lange macht ihr das schon so? 

Sharon: Als wir mit unserem genialen Produzenten Daniel Gibson angefangen haben zusammenzuarbeiten, hat er als Mediator zwischen uns agiert, damit wir nett zueinander sind. (lacht) Wenn Robert im Studio arbeitet, gehe ich nicht hinein. Und umgekehrt. Und Daniel hilft uns dabei, ausgeglichen und freundlich zueinander zu bleiben. (lacht) Du weißt das vielleicht selbst aus einer Beziehung: mit dem Partner ist man oft zu ehrlich, zu ungnädig, hält sich mit der Meinung nicht zurück und versucht auch nicht sich gefiltert mitzuteilen. Wenn du mit jemanden arbeitest, der nicht dein Partner im wahren Leben ist, dann bringst du Kritik anders an. Du sagst dann vielleicht: „Ja, das klingt schon gut, ich würde aber eventuell das und das noch probieren.” Du bist viel diplomatischer, als du das mit deinem Mann sein würdest. (lacht) 

Tauchen wir ein bisschen in „Bleed Out"ein. Es ist ein Album mit starken politischen Positionen. Und setzt sich mit schweren Themen auseinander – Krieg, Krisen, Unterdrückung, Gewalt. Bedeutet für dich Künstler zu sein, auch politisch Stellung zu beziehen?

Sharon: Ich glaube nicht, dass man als Künstler politisch sein muss. Wir haben uns aber dafür entschieden. Wir waren immer schon politisch interessiert und engagiert. Aber hatten auch etwas Angst davor, diesen Aspekt in unsere Arbeit mitaufzunehmen. Denn sind wir ehrlich: es ist ein Minenfeld. Es kann so viel falsch verstanden und falsch interpretiert werden, wenn man politisch Stellung bezieht. Und es gibt viele Künstler*innen, genauso wie Fans, die sagen, man sollte in der Musik nicht über Politik sprechen. Das ist für uns in Ordnung. So funktioniert Demokratie: Wir können uns darauf einigen, dass wir uns nicht einig sind. Wären wir ein Band in Russland, hätten wir keine Möglichkeit, uns so offen auszudrücken oder auch in anderen Ländern, in denen eine Diktatur vorherrscht. Dort gibt es diese Möglichkeit nicht. Und wir sind politisch in unseren Texten, weil es uns frustriert und traurig macht, was in unserer Welt passiert und wir die Freiheit besitzen, das tun zu können. Wir versuchen, die im Album aufgearbeiteten Geschehnisse mit persönlichen Geschichten mit unserer Musik, mit unseren Lyrics nahbar zu machen. Wir wollen nicht auf die Barrikaden gehen, weil es cool ist, sondern wir tun es, weil wir keine andere Option sehen. Die Freiheit des Individuums ist für uns das Wichtigste. Wir sind in einer freien, demokratischen Welt aufgewachsen, aber diese ist momentan stark gefährdet, auch in Europa. Das bereitet uns große Sorgen. Wenn die Ukraine den Krieg gegen Russland verliert, ist es ein weiteres Land, das über keine Demokratie mehr verfügt.

Du hast vorhin schon von „Entertain You“ gesprochen. Dort singst du: „We´re not here to entertain you” - ist das eine Message an eure Fans. Hört uns zu und lernt daraus? Wollt ihr euren Fans einen kathartischen Moment ermöglichen?

Sharon: Das ist immer meine Hoffnung. Dass die Lyrics gehört werden und wir damit einen gedanklichen Samen setzen, der auch nach dem Konzert in den Köpfen der Konzertbesucher*innen weiter wächst. Aber ich weiß auch: viele wollen einfach nur eine gute Zeit bei unseren Konzerten haben. Bei unseren Auftritten nützen wir die Chance und erklären die Inhalte und die Geschichten hinter den Songs. Wir hoffen, dass es wirkt. 

Glaubst du, es bleiben viele Künstler*innen still, aus Angst, gecancelled zu werden?

Sharon: Mit Sicherheit. Aber, wer nicht aufsteht und nichts sagt, wird auch nichts verändern. 

In „Cyanide Love” sprichst du deutsch. Du sagst: „Ich habe nichts gehört. Ich werde nicht reden.” Was hat es damit auf sich? 

Sharon: (lacht) Wir wollten eine andere Sprache als Englisch verwenden, um das Fremde zu vermitteln. Ich hab es auf ukrainisch versucht, aber das hat, so wie ich es gesagt habe, nicht gut geklungen. Dann haben wir es auf niederländisch versucht, das hatte auch nicht den richtigen Klang (lacht). Wir haben das Ganze dann auf deutsch versucht und das hat geklappt. Deutsch konnte ich bewältigen. (lacht) Der Song selbst dreht sich inhaltlich um den Widerstand in Cherson (Ukraine), deshalb wäre auch die Landessprache die erste Wahl für den gesprochenen Part gewesen, aber ich hab es nicht geschafft. 

Die Band hat sich stilistisch in den 26 Jahren der Bandgeschichte extrem verändert. Von Gothic-, über Symphonic- bis hin zu Alternative Metal. Eine bewusste Entscheidung oder einfach eine Entwicklung? 

Sharon: Es ist eine Entwicklung. Vor allem auch, weil wir eine Band sind, die sehr schnell von Wiederholungen gelangweilt wird. Man kann doch nicht immer dasselbe machen – das ist Stillstand. Das wollen wir nicht. Außerdem fehlt mir die Fähigkeit, das Gleiche zu replizieren, die Veränderung kommt automatisch. Neue Sachen auszuprobieren macht mehr Freude, ist befriedigender. Wir ticken da in der Band alle gleich. 

Sharon den Adel, Within Temptation

Within Temptation

Within Temptation, 1996 gegründet, ist eine niederländische Alternative-Metal-Band, angeführt von der Sängerin Sharon den Adel. Im Verlauf ihrer eindrucksvollen Karriere haben sie sich von ihren Gothic-Metal-Wurzeln zu einem vielseitigeren Metal-Sound entwickelt. Mit Chart-Alben und Hits sind sie eine einflussreiche Größe in der Metalszene.

Mitglieder

Sharon den Adel - Vocals Robert Westerholt - Gitarre Ruud Jolie - Gitarre Stefan Helleblad - Gitarre Martijn Spierenburg - Keyboard Jeroen van Veen - Bass Mike Coolen - Drums

Springen wir nochmal zurück zum Weltgeschehen. Die Welt, wie sie heute ist, macht vielen von uns Angst. Wie siehst du die Zukunft? 

Sharon: Ich denke, alles kommt in Wellen. Es gibt schlechtere Zeiten, dann kommen wieder bessere. Ich glaube, das größte Problem der Menschheit ist, dass wir nicht aus unseren Fehlern lernen. Dass wir nicht aus der Geschichte lernen. Ich hoffe, dass sich das verändert. 

Eine letzte Frage – ihr seid eine Band , die extrem viel tourt. Wie schafft ihr es, euch immer wieder zu motivieren?

Sharon: Für mich ist es eine Hassliebe. Zwei Wochen vor Tourstart kämpfe ich mit Bauchschmerzen. Ich bin jemand, der sich mit Veränderung sehr schwertut und Tourleben ist die totale Veränderung zu meinem normalen Alltag. Aber, wenn wir auf Tour sind, liebe ich es. Touren macht süchtig. Nach der Tournee brauche ich fast zwei Wochen, bis ich wieder die normale Sharon bin. (lacht) Auf Tour bekommst du täglich Applaus, kannst leicht das Gefühl bekommen, du wärst die Größte. Zu Hause ist das anders: Dort bist du kein Star, erhältst keinen Applaus und das ist auch gut so. Das Nachhausekommen ist für mich ganz wichtig, weil es mich am Boden hält. Die Zeit nach dem Touren stelle ich mir für Künstler*innen ohne Familie sehr schwierig vor, sie haben diesen Ausgleich mit dem Alltag nicht. Ich glaube, wenn man zu lange auf Tour ist, könnte man leicht zum Narzissten werden. Es ist sehr intensiv - im Positiven wie im Negativen. Ich liebe, was ich tue. Aber wie in jedem Job gibt es Vor- und Nachteile und ich freue mich jetzt schon auf die nächste Tour.

Wir sind am Ende angekommen. Möchtest du den Fans noch etwas mitgeben?

Sharon: Ja, wir unterstützen eine Organisation Ukraine Aid Ops. Es ist eine Non-Profit-Organisation. Und wir möchten gerne jede Möglichkeit nutzen, um zur Unterstützung aufzurufen. 

Danke für deine Zeit, Sharon! 

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