„Der Albtraum spielt sich direkt vor unserer Haustüre ab" 

Helle Bogdanova, Frontwoman der ukrainischen Melodic-Metal-Band Ignea, im Gespräch über den Krieg in ihrer Heimat, zerplatzte Tourpläne und neue Musik. 

Elena von Dark Divas

ELENA VON DARK DIVAS

15. Apr. 2022

Interview
Ignea
Helle Bogdanova
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Vielen Dank für deine Zeit, Helle! Die wichtigste Frage zuerst: Wie geht es dir in der aktuellen Situation – bist du sicher?

Helle Bogdanova: Es gibt eigentlich keinen sicheren Ort mehr hier. Im Moment sind zwar keine russischen Truppen hier, aber jeden Tag, seit Tag eins, hören wir Sirenen. Es könnten zu jedem Zeitpunkt Raketen einschlagen. Meine mentale Verfassung ist heute aber um einiges besser, als beim Ausbruch des Krieges. Am Anfang gab es das totale Chaos und viel Unsicherheit. Ich hatte Angst. Langsam aber sicher haben sich alle an die Situation gewöhnt. Wir wissen jetzt, wie wir uns verhalten müssen, falls etwas passiert. Wo wir hingehen können, wie wir unsere Sachen schnell packen und wie wir den Unterschied zwischen gewöhnlichem Flugzeug, Luft-Sicherheitssystem und Artillerie erkennen. Wir haben uns viel neues Wissen angeeignet. Dadurch ist es in Kiew ruhiger geworden. Aber wir dürfen natürlich nicht vergessen, im Osten werden schlimme Kämpfe ausgefochten. Wir müssen an unser Militär und daran, dass wir diesen Krieg gewinnen, glauben.

Auf Instagram hast du geschriebenwe are not going anywhere, we are staying home****" – warum hast du dich dazu entschieden, trotz der gefährlichen Umstände in deiner Heimat zu bleiben?

Helle: Die Band besteht aus mir und den vier Jungs. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen. Ich könnte gehen, sie aber nicht. Gleichzeitig leben wir an einem Ort, an dem derzeit keine russischen Truppen vorbeiziehen. Es ist hier nicht so gefährlich, wie im Osten oder im Süden des Landes. Wenn es hart auf hart kommt, steige ich ins Auto und fahre in den Westen. Wenn ich Kinder hätte, wäre ich vielleicht gleich in die EU geflüchtet. Aber ich bin erwachsen, gesund und muss auf niemanden aufpassen. Es nutzt der Ukraine mehr, wenn ich hier bleibe.

Ich kann das alles immer noch nicht glauben. Wir schreiben das Jahr 2022 – und es ist Krieg in Europa...

Helle: In der ersten Wochen konnten wir es auch kaum glauben, trotz Kampfjets am Himmel, Panzern in den Straßen, Explosionen und Raketen. Du siehst die Dinge und denkst: „Was zur Hölle passiert hier gerade?!" Wenn man schläft, hat man manchmal Albträume. Nach dem Aufwachen ist dann alles wieder gut. Für uns ist es genau umgekehrt. Jede Nacht träumen wir von einem normalen Leben, während sich tagsüber der Albtraum direkt vor unserer Haustüre abspielt.

Auf mich wirkst du trotz allem sehr optimistisch.

Helle: Ich habe Freunde in der Armee, die jeden Tag kämpfen. Und ich glaube nur, weil die Ukraine aufgestanden ist und sich wehrt, Kiew nicht von den Russen eingenommen wurde, haben wir Hoffnung. Unsere Soldaten sind großartig und wenn wir sie unterstützen, können sie unser Land verteidigen. Eine Möglichkeit, ihnen den Rücken zu stärken, ist deshalb, die Ukraine nicht zu verlassen. Sogar die Regierung sagt, wer in Sicherheit ist und arbeiten kann, soll das tun. Das ist hilft der Wirtschaft und der Armee am meisten. Wir haben mittlerweile verstanden, dass niemand sagen kann, wann dieser Krieg enden wird. Wir müssen uns einfach den Umständen anpassen. Niemand kann in ständiger Angst leben, das macht einen verrückt.

Ein Stückchen Normalität habt ihr ja doch noch – ihr steckt mitten in der Produktion eures nächsten Albums. Wie hat der Krieg die Recordings bisher beeinflusst?

Helle: Die Hälfte des neuen Albums ist bereits fertig. Gitarre, Bass und und ein Großteil der Vocals sind im Kasten. Das Songwriting ist ebenfalls abgeschlossen. Weil sich die Lage in Kiew jetzt beruhigt hat, versuchen wir den Rest bald abzuschließen. Aber unser Drummer beispielsweise, hat die Drumsticks seit Ausbruch des Krieges nicht angerührt. Er versucht jetzt wieder in Form zu kommen – Schlagzeugspielen ist schließlich auch eine körperliche Sache.

Das große Problem sind nicht die Aufnahmen, sondern alle visuellen Sachen – Promo-Fotos und Videoshootings. Viele Leute mit denen wir normalerweise arbeiten, haben ihr Zuhause verloren, kämpfen im Krieg oder leisten Freiwilligenarbeit. Auch die Locationwahl ist schwierig. Würden wir im Wald shooten wollen, wäre das unmöglich, weil die Russen dort lauter Minen platziert haben. Und überhaupt: Stell dir vor du bist mitten im Videoshoot und plötzlich geht der Bombenalarm los. Dann kannst du von vorne anfangen. Deshalb dachten wir uns, wir machen jetzt alles Schritt für Schritt und schauen erstmal, wie sich das Ganze entwickelt.

Aber ihr wollt noch heuer damit fertig werden?

Helle: Ja, klar! Wir haben Hoffnung, unser Fulltime-Musikerleben irgendwann zurückzubekommen. Außerdem müssen wir die Deadlines von Napalm Records einhalten. Aber ich denke, wir werden das Album nicht releasen, solange der Krieg andauert. Das wäre sonst unser drittes Release, mit dem wir nicht auf Tour gehen können. „The Realms of Fire and Death" und auch „Bestia" wurden beide während der Pandemie veröffentlicht. Wir sind seit zwei Jahren nicht mehr auf der Bühne gestanden. Wegen des Krieges werden wir unser Comeback weiterhin aufschieben müssen.

Welches Thema stellt ihr auf dem neuen Album in den Fokus? Können wir noch mehr slavische Mythologie, wie auf "Bestia", erwarten?

Helle: Das darf ich leider nicht verraten. Was ich jedoch sagen kann, ist, dass ein paar ukrainische Songs mit auf der Platte sein werden. Generell nimmt das Album Bezug zur Ukraine. Und: Jeder von uns mag wirklich jeden Song – vom Anfang bis zum Ende.

Wie kam es zu den ukrainischen Songs?

Helle: Manchmal beim Songwriting und Producing, hörst du das Lied schon in einer bestimmten Sprache in deinem Kopf. Bei ein paar Songs für das neue Album waren wir uns sofort einig, dass sie ukrainisch gesungen sein sollten. Die Melodien passen perfekt und es fühlt sich sehr natürlich an.

Im vergangenen Herbst habt ihr gemeinsam mit Ersedu "Bestia"aufgenommen. Wie kam es zur Zusammenarbeit auf der EP?

Helle: Wir sind seit über zehn Jahren mit ihnen befreundet. In der Pandemie waren wir zu Besuch bei ihnen und haben dann spontan entschieden, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Sie hatten bereits einen instrumentalen Songpart parat, innerhalb eines Abends habe ich die Lyrics dazu getextet. Danach folgte das Konzept für die EP. Für uns war die EP wie ein kleines Geschenk an unsere Fans, weil es uns aufgrund der Coronasituation nicht möglich war, ein weiteres Full-Length-Album rauszubringen. So können sie jetzt etwas hören, während wir an der neuen Platte arbeiten.

Wird es auf dem neuen Album ebenfalls Featurings geben?

Helle: Es sind ein paar Gast-Vocals geplant. Aber das steht und fällt natürlich mit der Entwicklung des Krieges. Wir hoffen aber sehr, dass das zustande kommt!

Die letzten zwei Jahre waren auch von Covid-19 geprägt. Du hast dich Ende Jänner damit infiziert. Wie ging es dir?

Helle: Das war bereits das zweite Mal! (lacht) Das erste mal Covid hatte ich im November 2020. Damals war es sehr schlimm. Ich war extrem kurzatmig, konnte kaum eine Zeile singen, weil mir ständig die Luft wegblieb. Ich brauchte einen Monat, bis ich beim Singen wieder normal atmen konnte. Das zweite Mal mit Impfung war es schon nicht mehr so schlimm.

Covid und Krieg bedeuten viele geplatzte Tourdaten. Was denkst du, werdet ihr dieses Jahr überhaupt auf Tour gehen können?

Helle: Das kommt stark darauf an, wie sich alles entwickelt. Es werden viele Vorhersagen gemacht und jeder meint, dass die nächsten Wochen entscheidend sein werden. Die Touren werden auf jeden Fall geplant, damit wir bereit sind, falls der Krieg endet. Ich will das wirklich von ganzem Herzen, das ist mein größter Wunsch. Ich will reisen, unsere Fans treffen, on the road sein. Das ist ein großer Teil meiner Identität. Wir bleiben optimistisch.

Reisen und touren, die Welt entdecken – fehlt dir das am meisten?

Helle: Ja, und wie! Ich mag es nicht, zuhause rumzusitzen. Ich bin normalerweise immer unterwegs, auch wenn wir nicht auf Tour sind. Dass ich jetzt mehrere Jahre aufgrund von Covid nicht reisen konnte und jetzt schon wieder daheim bleiben muss, nervt mich. Selbst wenn ich wollte – ich könnte nicht einmal gehen. Die Flughäfen werden von Russland angegriffen, Flugzeuge fliegen nicht. Ich müsste zu Fuß oder mit dem Auto nach Polen und von dort weiterreisen. Alleine zur Grenze zu gelangen würde mich mehrere Tage kosten.

Manchmal, wenn ich so denke, fühle ich mich schuldig gegenüber denen, die es viel schlimmer haben. 15 Kilometer von meinem Haus entfernt wurden Familienhäuser komplett zerbombt, Mädchen und Frauen vergewaltigt. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie es für sie sein muss. Wir sollten einfach dankbar sein, dass wir am leben und unverletzt sind. Ich versuche deshalb nicht zu viel über mich selbst nachzudenken.

Hast du zum Abschluss noch einen Tipp für eure Fans, welchen Song sie hören sollen, wenn sie in dieser schwierigen Zeit ein wenig Trost brauchen?

Helle: „Magura's Last Kiss" – der Song handelt von einer ukrainischen Wallküre. Eigentlich hilft sie den Soldaten auf dem Schlachtfeld im Kampf, aber in unserem Lied hat sie die Schnauze voll vom Krieg und stoppt ihn. Ich hoffe, dass sich das auch in der Realität bald bewahrheitet.

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